Ohne Kohlen - Weihnachten 1946 in Leipzig

70 Jahre ist es her, dass die Menschen Weihnachten 1946 feierten. Es war das erste Jahr ohne Krieg. LVZ-Leser Frank Müller (79), gebürtiger Leipziger, heute wohnhaft in Baden-Württemberg, erinnert sich an das Fest damals.

Artikel veröffentlicht: 24. Dezember 2016 10:10 Uhr

Leipzigs Weihmachtsmarkt im Jahr 1947.
Quelle: Archiv

Es gibt keine Kohlen zum Heizen. Die Gartenzäune, die die Vorgärten der Häuser eingrenzen, werden Latte für Latte immer lichter, weil Nachbarn diese sich in der Dunkelheit zum Heizen holen.

Jeden Abend, wenn es eindunkelt, verlassen vermummte Personen mit einem großen Rucksack oder einer Tasche die Häuser. Alle haben dasselbe Ziel, den Rangierbahnhof am Bayerischen Bahnhof in Leipzig. Dort stehen die Züge voll mit Brikett und Braunkohle beladen. In der Dunkelheit klettern die Leute auf Waggons oder in die Tenderlokomotiven und schmeißen Kohle runter. Kohlen klauen ist bei hoher Strafe verboten. Es kümmert die Menschen nicht, sie frieren, sie wollen heizen und kochen. Strom und Gas sind rationiert, wie Lebensmittel und Kohlenzuteilung. Wer Glück hat, kriegt seinen Rucksack voll und kehrt unbehelligt heim. Viele werden erwischt und bestraft. Immer wieder werden Einzelne zwischen den Puffern der rangierenden Waggons zerquetscht.

Auch meine Mutter geht jeden zweiten Tag Kohlen klauen, damit wir zu Weihnachten eine warme Stube haben. Sie klettert an einer stillstehenden Lok hinauf und füllt sich den Rucksack voll mit Anthrazit-Kohle. In der Dunkelheit steht plötzlich der Lokführer vor ihr. Sein Gesicht ist schwarz verrußt, und sie sieht nur das Weiße seiner Augäpfel. "Junge Frau! Was machen Sie denn da?" Die Mutter: "Mein Mann ist in russischer Gefangenschaft gestorben. Ich habe eine halb blinde Mutter und zwei Jungen zu Hause, die frieren!" Der Lokführer: "Jetzt sagen Sie mir mal, wo Sie wohnen, und ich bringe Ihnen jede Woche Kohle nach Hause. Sie müssen mir aber versprechen, nie wieder hierher zu kommen!"

Kuhna bringt die Kohlen

Der Lokführer hieß Kuhna, hatte ein Motorrad mit Beiwagen. Jede Woche brachte er uns Kohle. Meine Mutter hatte erst Sorgen, dass er für diese Dienstleistung etwas von ihr erwartete. Das traf indes nie ein. Er brachte die Kohle und fuhr wieder fort. An den Bahnlinien fuhren täglich Züge mit Kohle beladen. Die Zugbegleiter, einfache Männer, hatten Briketts in Zweierreihen aufgeschichtet. Sobald sie Menschen an den Gleisen sahen, stießen sie die Briketts vom fahrenden Zug neben die Gleise, so dass man sie dort auflesen konnte.

1946 war alles rationiert. Lebensmittel, Brennstoffe, Gas, Strom. Der Schwarzmarkt blühte. In den eiskalten Wintertagen schickte uns meine Mutter jede Woche zu den Freunden meines Vaters. Die Freunde hatten sich vorgenommen, nach einem verlorenen Krieg den Familien zu helfen, die ohne Ernährer waren. Bei eisigem Nordwind und hohem Schnee mussten wir einige Kilometer laufen. Der eine Freund unseres Vaters war Leiter einer kleinen Konservenfabrik. Es war uns Buben peinlich, in diesen Betrieb zu gehen, nach dem Mann zu rufen und ihm dann unsere Bitte vorzutragen, ob wir etwas bekommen können. Meist mussten wir eine Viertelstunde warten, dann kam der Mann zurück und stellte uns die Sachen auf den Schlitten. Er selbst schien nicht glücklich über diese Situation. In der Regel bekamen wir einen Kanister mit Sauerkraut, saure Gurken in Gläsern oder einen Karton voll mit Brikett. Wir waren stolz, wenn wir heimkamen mit unseren damals so kostbaren Sachen. Sauerkraut war begehrt, saure Gurken auch. Die Dinge wurden portionsweise in der Nachbarschaft verkauft oder gegen anderes getauscht.

Brot für 120 Mark

Für die Frauen damals war Weihnachten eine Herausforderung. Mehl und Zucker zum Backen fehlten und vor allem das Fett. Auf dem Schwarzmarkt kostete ein 1000-Gramm-Brot 120 Mark. Eine Zigarette 6 bis 10 Mark. Um zu Weihnachten etwas kaufen zu können, produzierte meine Mutter aus selbstgezogenem Tabak Zigaretten. Wir Buben sammelten überall Zigarettenkippen auf, lösten aus ihnen den Resttabak, aus dem wieder neue Zigaretten gedreht wurden. An Gesundheit dachte dabei niemand.

Winter 1946 in Marienbrunn: LVZ-Leser Frank Müller (damals 9 Jahre alt; links) mit dem als Mädchen verkleideten Freund Peter Baier und Bruder Norbert (12; rechts).
Quelle: Privat

Die Weihnachtsstolle backte meine Mutter schon Ende November. Die lag dann auf dem Schrank im kühlen Schlafzimmer bis Weihnachten. Das Gebäck war hart und trocken und schmeckte furchtbar. Diese Stolle war Monate später, zu Ostern, noch immer nicht aufgegessen. Sie war zu schlecht, letztendlich landete sie im Hühnerstall.

Für uns Kinder der Großstadt war das Schönste an diesem Weihnachten, dass es keinen Krieg mehr gab. Nie mehr wurden wir aus dem Schlaf gerissen und mussten in den Luftschutzkeller eilen und die dumpfen Einschläge der Bomben abwarten. Trotz der verheerenden Versorgungslage fühlten wir, dass es irgendwann besser werden würde. Als Jungs waren wir durch das Mithelfen bei den Versorgungsengpässen selbstbewusst und sicherer geworden. Diese Prägung, Schwierigkeiten auszuhalten, zu verbessern und zu überstehen hat positiv geprägt, obgleich man es keinem Menschen wünscht. An meinem 10. Geburtstag hatte ich mir ein Brötchen vom Bäcker gewünscht. Es kam indes nicht, erst Jahre später, als ich diesen Wunsch längst vergessen hatte.

Weihnachten ohne Bad

Vor Weihnachten wollten wir ein Bad nehmen. Dazu musste der Badezimmerofen mit dem großen Wasserbehälter aufgeheizt werden. Mein Bruder schob, ohne meiner Mutter Bescheid zu sagen, zwei kaputte Fahrradschläuche aus Gummi in das Feuerloch. Das Feuer begann augenblicklich wie wild zu lodern. Meine Mutter wunderte sich, konnte jedoch das brennende Gummi nicht aus dem Feuerloch holen. Das Feuer wurde immer heftiger - und mit einem Mal gab es ein scharfes Geräusch. Die große Hitze hatte die Lötbahnen am Kupferkessel gelöst. Das heiße Wasser lief aus, der Ofen war kaputt. Erst drei Wochen später konnte er geflickt werden. Meinem Bruder ging es nach diesem Fiasko nicht sehr gut. Die ganze Familie war zu Weihnachten ohne Bad.

Die Ärmlichkeit der Situation an diesem Nachkriegsweihnachten, die Not, die fast alle erfasste, führte zu einer starken Verbundenheit untereinander. Beim Anblick der brennenden Lichter am Christbaum, der Duft der Bienenwachskerzen, beim Singen der Lieder, lösten sich in Kindern und Erwachsenen die angestauten Ängste aus den Kriegstagen. Es wurde viel, sehr viel geweint, und das Weihnachtsfest wurde zu einem starken inneren Erlebnis, dessen Tiefe lebenslang anhielt.

Aus der "Leipziger Volkszeitung" vom 24.12.2016